StromLos – Odyssee

Odyssee – Leseprobe

Als ich an dem vereinbarten Treffpunkt ankomme, wartet Emi dort schon auf mich. Neugierig schaut sie mir entgegen. In ihrer rechten Hand hält sie eine alberne Stofftasche, die mit einem Regenbogen verziert ist. Ich werfe einen Blick auf das Treiben hinter ihr in der Mall. Auch hier laufen die Menschen aufgeregt umher und plündern in ihrer Verzweiflung Geschäft um Geschäft.

Wie die Tiere! Gerade erblicke ich vor einem Laden eine weitere Menschenansammlung. Sie steht vor einem offenen Feuer, über dem ein großer Kessel hängt, in dem offensichtlich etwas gekocht wird. Ich überlege, welcher Gaumenschmaus wohl in dem Topf vor sich hin gart und verspüre ein Hungergefühl, wie ich es noch nie zuvor in mei- nem Leben vernommen habe, als mich Emi aus meinem Film reißt.

„Sie scheinen ja ziemlich erfolgreich gewesen zu sein …“, empfängt mich Emi und deutet mit neugierigem Blick auf meine schwarz glänzende Ledertasche. Mir steht im Moment nicht der Sinn danach, Emi von dem Wahnsinn zu berichten, den ich gerade erlebt habe. „Sie anscheinend auch!“, lenke ich ab, und deute auf ihren bescheuerten Regenbogenbeutel. Emis Gesicht erhellt sich sogleich. „Ja, ich hatte unheimliches Glück. Ich kenne die Mall hier. Weiter unten gibt es einen Laden, der von einem ganz wundervollen Menschen betrieben wird. Der hat mir all die Sachen hier mitgegeben …“ „Aha!“, brumme ich dazwischen, gerade als Emi ihre Inventurmeldung verkünden möchte und beginnt, in dem Regenbogenbeutel herumzukramen. Ich fühle mich unwohl in diesem verdammten, aus den Fugen geratenen Irrsinn plündernder Menschenmassen. „Lassen Sie uns von hier verschwinden!“, entfährt es mir ungeduldig. Emi blickt überrascht auf und mustert mich. Dann nickt sie. „Aber wohin denn? Sagen Sie nicht, Sie wollen wieder einen Kilometer hinaufsteigen in Ihr Penthouse …“ „Lassen Sie uns erst einmal weg von hier!“, unterbreche ich sie ungeduldig. „Irgendwo in eine ruhige Ecke draußen. Dann sehen wir weiter!“ „Guter Plan!“, stimmt Emi ein. In dem Moment bricht lautes Geschrei vor dem Lebensmittelladen aus, der keine zwanzig Meter rechts von uns liegt. Ein kleines Mädchen rennt unvermittelt durch die verwüsteten Eingangstüren. Sie trägt ein dünnes hellblaues Stoffkleidchen, das über den Knien endet, dazu Flip- Flops in der gleichen Farbe. Ihre glatten dunklen langen Haare kleben ihr in Strähnen verschwitzt im Gesicht. Mit beiden Armen umklammert die Kleine fest ein langes Baguettebrot wie einen Rettungsring. Die Kleine eilt aus dem Laden, als würde sie vor etwas fortlaufen. Ich sehe in das ängstliche Gesicht, als sie direkt in unsere Richtung läuft. Gerade als ich überlege, wie alt das Mädchen wohl sein mag und zu dem Ergebnis komme, dass sie wohl noch unter zehn Jahre ist, donnert ein Schuss durch die Mall. Wildes Geschrei ertönt sogleich von überall her. Die meisten rennen nun noch hektischer hierhin und dorthin, manche bleiben wie vom Donner gerührt stehen, nicht wissend in welche Richtung sie Zuflucht nehmen sollen. Mein Blick ist überall und nirgends, da erst sehe ich, dass das Mädchen in dem hellblauen Kleidchen regungslos auf dem Boden liegt, keine zehn Meter von der Stelle entfernt, an der Emi und ich stehen. Auch Emi scheint in diesem Moment die Kleine erblickt zu haben, denn sie rennt ohne ein weiteres Wort auf das Mädchen zu. Verdammt! Widerwillig folge ich Emi. Neben dem Mädchen stellt Emi ihren Regenbogenbeutel ab und fällt auf die Knie. Mit beiden Armen umfasst Emi vorsichtig die Schultern des Mädchens und zieht den Oberkörper der Kleinen bedächtig zu sich heran. Ich stehe am Kopfende des vor mir liegenden Mädchens und nehme mit Entsetzen den tellergroßen Blutfleck auf Nierenhöhe des Kleidchens wahr, der sich beängstigend schnell vergrößert. Auch auf dem Boden zeigt sich eine Blutlache. Die rehbraunen Augen des Mädchens starren stumm und nicht begreifend zur Decke.

„Alles ist gut!“, redet Emi beruhigend auf die Kleine ein. Sie kann die Blutlache aus ihrer Position nicht sehen. Just in dem Moment stürmt mit lautem Gebrüll ein fetter bärtiger Mann aus dem Lebensmittelladen. Sein Bierbauch hängt über einer durchgewetzten Trainingshose und wölbt sein vollgeschwitztes T-Shirt so weit nach vorne aus, dass der weiße haarige Bauch des Fettsackes zum Vor- schein kommt. Sein Anblick widert mich auf der Stelle an. Wie ein gehetztes Tier schaut er sich um. Als sein Blick auf uns fällt, stürmt der haarige Fleischsack auf uns zu.

„Da ist ja die kleine Diebin!“, brüllt er. Erst jetzt erkenne ich, dass er eine Waffe in seiner fettigen Pranke schwingt.

Das darf doch nicht wahr sein, nicht schon wieder! Vermutlich hat er aus dem Laden heraus auf das Mädchen geschossen. Ich überlege, ob ich etwas unternehmen soll, doch da steht der bärtige Fleischklops schon vor uns. Sofort hält er die Waffe in Richtung der Kleinen und Emi. Mich beachtet der Widerling nicht.

„Sofort her mit dem Brot“, röhrt es heiser aus ihm heraus. Ich überlege, ob ich dem Fettsack einfach eine Kugel in sein Hirn jagen soll, doch ich halte mich zurück.

„Ganz ruhig, hören Sie. Hier haben Sie das Brot“, redet Emi besänftigend auf den erbosten Fetten ein. Der fackelt nicht lange und grabscht nach dem Brot. Sofort walzt er von dannen und macht sich durch das Treppenhaus aus dem Staub.

„Keine Angst Kleine, alles ist in Ordnung, du bekommst von uns etwas zu essen …“, redet Emi dem Mädchen gut zu, noch immer nicht wissend, dass sie von einer Kugel getroffen wurde. Ich beuge mich hinunter zu Emi und blicke in die Augen des kleinen Mädchens. Stumm schaut sie nun abwechselnd mich und Emi an, mit einem Blick nicht begreifender Hilflosigkeit, wie ihn nur ein unschuldiges Kind auszudrücken vermag. Die verängstigten Augen des Mädchens brennen sich mir ein, ich weiß, ich werde sie nie wieder vergessen können. Gerade als ich überlege, das fette Schwein zu verfolgen, beginnen die Augenlider des Mädchens zu flimmern, und schließen sich. Für immer!

„Hey …“ ruft Emi leise in Richtung des Mädchens. Ich fasse Emi an der Schulter.

„Sie ist tot!“, flüstere ich, dabei versagt mir die Stimme. Noch nie ist mir die Stimme versagt, doch in dem Augenblick bringe ich kein Wort mehr heraus, und eine Träne läuft meine Wange herab, ohne dass ich es verhindern kann. Emi schaut mich entsetzt an, so als ob sie es nicht begreifen würde.

Wie denn auch? Dann schwant ihr das Unheil, und sie dreht den Körper der Kleinen und erblickt das Blut auf dem Kleid und am Boden.

„Neiiiiiiiiiiiiiiiiiiiin!“ Emis Schrei erklingt herzerweichend. Schluchzend drückt sie das tote Mädchen an sich und weint bitterli- che Tränen, während sie immer wieder ihr Nein anklagend durch die Mall hallen lässt. Das Mädchen ist in ihren Armen gestorben, ohne dass Emi oder jemand anderes helfen konnte. Keine Ambulanz lässt sich rufen, wir sind Gefangene unserer Mangelhaftigkeit, zurückge- worfen auf unsere reduzierte menschliche Wesenheit, deren Mög- lichkeiten in dieser aus den Fugen geratenen Mall ebenso bescheiden sind, wie die eines verdammten Neandertalers aus dem Pleistozän.

Erst jetzt bemerke ich die Traube von Menschen, die mit betretenen Mienen um uns herum stehen und gaffen.

Ich fühle mich wie gelähmt und habe keine Ahnung, wie ich mich verhalten soll. Am liebsten würde ich hinausstürmen und dem Fetten hinterher jagen.

Gnade ihm Gott, wenn ich das Schwein finde. Doch ich kann Emi in dieser Situation nicht alleine lassen. Ich stelle den Delfinlederbeutel ab und lege unbeholfen meinen Arm um Emi. Dankbar greift Emi nach meiner Hand, während sie mit der anderen schluchzend das tote Mädchen im Arm hält.

Das darf doch alles nicht wahr sein. Was kommt noch …?

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